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Vita von Kurt Schwaen (ausführliche Fassung)

Kurt Schwaen stammt aus einer musikträchtigen Landschaft, in der sich zur Zeit seiner Kindheit und Jugend deutsche und slawische Musikkultur und Folklore eng berührten und gegenseitig befruchteten. Er wurde am 21. Juni 1909 als Sohn eines Kaufmanns in Kattowitz, dem seit 1921 polnischen Katowice, geboren, das schon damals als führendes Zentrum des Bergbaus und Hüttenwesens in Oberschlesien galt. Hier fand er in dem Kantor und Organisten der evangelischen Kirchengemeinde und prominenten Chorerzieher Fritz Lubrich jun., einem Schüler Max Regers und Karl Straubes, den prägenden Lehrer und Mentor, der ihn nicht nur zu souveräner Beherrschung des Klaviers führte, sondern auch mit dem Orgelspiel und den Grundlagen des Tonsatzes vertraut machte.

Von 1929 bis 1933 studierte Schwaen an den Universitäten Breslau und Berlin Musikwissenschaft, Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie und konnte bereits erste kammermusikalische Werke veröffentlichen. Seine weitere Entwicklung auf dem Gebiet der Komposition vollzog sich autodidaktisch. Sie erfuhr eine schmerzliche Unterbrechung durch drei Jahre Zuchthaushaft in den Vollzugsanstalten Luckau und Zwickau, zu der Schwaen 1935 wegen seines Engagements gegen das NS-Regime verurteilt wurde. Nach seiner Freilassung erhielt er unter ständiger Polizeiaufsicht nahezu vier Jahre nachhaltige Schaffensanstöße durch die Mitarbeit als Pianist in einem Berliner Studio für künstlerischen Ausdruckstanz und die Begleitung namhafter Tanzsolistinnen wie Oda Schottmüller und Mary Wigman. Im Februar 1943 wurde er für »bedingt wehrwürdig« erklärt und zum Militärdienst im Pionierbaubataillon der Strafdivision 999 einberufen. Er war u.a. in Polen, an der französischen Atlantikküste, in der griechischen Stadt Larissa, auf der Insel Lemnos sowie in Brünn und Olmütz im Einsatz, bis es ihm Anfang April 1945 gelang, unentdeckt in Berlin Zuflucht zu finden.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges widmete sich Schwaen gemeinsam mit seiner Frau Hedwig, die er in dem Berliner Tanzstudio kennen gelernt hatte, zunächst der Ordnung und Präsentation des umfangreichen künstlerischen Nachlasses seines Schwiegervaters Emil Stumpp, der 1941 in einem ostpreußischen Gefängnis ums Leben gekommen war, nachdem er schon 1933 durch die NS-Behörden ein Berufsverbot erhalten hatte und nur noch in einigen Nachbarländern unbehelligt arbeiten konnte. Es gelang ihnen, dem genial befähigten Maler, Grafiker und Pressezeichner bereits im Juni 1945 mit der ersten Berliner Kunstausstellung nach Kriegsende eine würdige Ehrung zuteil werden zu lassen. Zugleich gaben sie damit den Anstoß für die Gründung des Emil-Stumpp-Archivs, das Kurt Schwaen bis zu seinem Tod intensiv betreute. Aus den Schätzen dieses Archivs gab er 1983, von einer eigenen biographischen Würdigung eingeleitet, einen Gedenkband »Über meine Köpfe« mit mehr als 60 eindrucksvollen Bildwiedergaben und umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen Emil Stumpps heraus. In der Folgezeit fand Schwaen in Berlin vielfältige Aufgaben beim Aufbau von Volksmusikschulen und als Musikreferent der Deutschen Volksbühne. Dadurch fühlte er sich auch als Komponist gefordert, Zeichen zu setzen durch neue, beispielgebende Werke, sowohl für die junge Generation wie für die dringend erneuerungsbedürftige Laienmusikpflege.

Große Bedeutung für seinen künstlerischen Reifeprozess gewann die Begegnung mit Bertolt Brecht und seinen ästhetischen Ansichten über das Theater. Die auf Wunsch des Dichters entstandene Komposition zu dem Lehrstück »Die Horatier und die Kuriatier« erschloss Schwaen ein wichtiges neues Arbeitsgebiet und regte ihn an, sich intensiver dem Musiktheater zu widmen. Ganz besonders begannen ihn die vielfältigen Möglichkeiten der szenischen Musik für Kinder zu interessieren, die er nicht nur als Zuhörer, sondern auch als Mitwirkende gewann. Weite Wirkungen erreichte er vor allem von 1973 bis 1981 in enger Zusammenarbeit mit der Musikerzieherin Dr. Ina Iske, die er vier Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete, durch die Gründung und Leitung der Leipziger Arbeitsgemeinschaft Kindermusiktheater.

Neben Brecht und seinen Meisterschülern Wera und Claus Küchenmeister hat Kurt Schwaen in seinen szenischen Werken und seinen zahlreichen Chor- und Sologesängen auch viele weitere Zeitgenossen vertont. Ganz besonders wusste er Günter Kunert zu schätzen. Fast alle namhaften Autoren der einstigen DDR sind in seinen Kompositionen präsent. Genannt seien Helmut Baierl, Johannes R. Becher, Uwe Berger, Volker Braun, Günther Deicke, Peter Hacks, Wieland Herzfelde, Sarah und Rainer Kirsch, Georg Maurer, Günther Rücker, René Schwachhofer, Erich Weinert und Paul Wiens. Doch auch weite Teile der Weltliteratur von der Antike bis zur Gegenwart haben ihn inspiriert. Neben Sprüchen Salomos aus dem Alten Testament finden sich in seinen Kompositionen deutsche Dichtungen des Mittelalters, alte deutsche Sprichworte, deutsche, sorbische und rumänische Volksdichtungen. Martin Luther und William Shakespeare fehlen ebenso wenig wie E. Th. A. Hoffmann, Hoffmann von Fallersleben, Hugo von Hofmannsthal, Ernst Toller, der Chilene Pablo Neruda und der Spanier Rafael Alberti. Zu einigen seiner Arbeiten für das Kindermusiktheater schrieb der Komponist eigene Texte.

Schwaen übernahm viele ehrenamtliche Verpflichtungen, u.a. im Verband der Komponisten und Musikwissenschaftler und in der Akademie der Künste der DDR, zu deren Ordentlichem Mitglied er 1961 berufen wurde. Von 1965 bis 1970 erwarb er sich als Sekretär der Sektion Musik in der Akademie große Verdienste, indem er durch Kolloquien und andere Veranstaltungen den Blick öffnete für die von den damals tonangebenden Instanzen weitgehend fern gehaltenen progressiven künstlerischen Entwicklungen jenseits der Grenzen des sozialistischen Lagers. 1990 wurde er Präsident der von ihm mitbegründeten Deutsch-Vietnamesischen Gesellschaft und trug nicht wenig dazu bei, die kulturellen Kontakte zwischen beiden Völkern zu vertiefen.

Wie wenigen anderen deutschen Komponisten des 20. und frühen 21. Jahrhunderts war es Kurt Schwaen vergönnt, bis in das hohe Alter geistig und körperlich aktiv zu bleiben. Noch im letzten Jahrzehnt seines Lebens, das am 9. September 2007 endete, unternahm er, wie schon zuvor, ausgedehnte Reisen, um Interpreten seiner Werke zu begegnen und neue Ideen zu sammeln. Sie führten ihn bis nach Vietnam, Belgien, Frankreich, der Schweiz, Österreich, Russland, Bulgarien und in seine seit 1921 polnische Heimat um Katowice, wo Jochen Kraußer mit ihm im Jahre 2000 einen umfangreichen Film über sein Leben und Werk drehte. Auch das kompositorische Schaffen riss nicht ab. Noch als Achtundneunzigjähriger setzte sich Schwaen häufig genug an den Computer, um ältere Entwürfe neu zu fassen und bereits vorliegende Kompositionen für Aufführungen vorzubereiten.

Insgesamt hat Kurt Schwaen in annähernd acht Jahrzehnten mehr als 650 Werke aller Genres geschaffen, vom Lied und Song über Chor- und Klavierwerke, Kammermusik, Orchesterkompositionen und szenische Musiken für Kinder bis zur Oper und zum Ballett, nicht gerechnet die nicht wenigen Arbeiten seiner frühen Jahre, die er mit wachsendem Qualitätsbewusstsein einem unbarmherzigen Autodafé überantwortete. Wichtig zu betonen bleibt, dass er sich, nicht erst seit seiner Tätigkeit in der Akademie der Künste, stets angeregt fühlte, Brücken zu schlagen zwischen den Künsten. Nicht vergessen werden darf, dass er sich auch schriftstellerisch, literarisch in beachtlichem Umfang betätigte. Er schrieb Kurzgeschichten, Feuilletons, aufschlussreiche Tagebuchaufzeichnungen, die noch längst nicht voll erschlossen sind, jedoch Wesentliches zu den zeitgeschichtlichen Hintergründen seines Lebens aussagen, meldete sich aber auch mit gedankenreichen Essays und zusammenfassenden Darstellungen zu musikgeschichtlichen und soziologischen Schlüsselfragen zu Wort, die noch heute zu einem nicht geringen Teil ungebrochenes Interesse verdienen.

Herausragende Bedeutung als Zeitgeschichtsdokument und persönliches Bekenntnis gewann vor allem die Autobiographie »Stufen und Intervalle«. Sie erschien erstmals 1976 mit dem Untertitel »Erinnerungen und Miszellen«. Nach dem Ende der DDR erlebte sie von 1996 bis 2009 nochmals drei jeweils aktualisierte und ergänzte Editionen mit dem neuen Untertitel »Ein Komponist zwischen Gesellschafts- und Notensystemen«. Schwaens weitgefächerte Interessen spiegeln sich aber auch in einer ideenreich aus der eigenen Bibliothek zusammengetragenen Zitatensammlung zu Geschichte und Gegenwart der Musik sehr eindrucksvoll wider. Durch das Ende der DDR bedingt, blieb sie zunächst ungedruckt und unbeachtet. Um so größer war die Überraschung, als sie, von seiner Frau im Namen des Kurt-Schwaen-Archivs herausgegeben und von Axel Bertram liebevoll bibliophil gestaltet, als Ehrengabe zu seinem 100. Geburtstag erschien.

Umwege, Krisen und Zweifel blieben Kurt Schwaen in seiner langen künstlerischen Entwicklung nicht erspart. In seinen frühen Jahren hatte er vielfältige Impulse aufgenommen: Janácek, Bartók, Strawinsky, zeitweilig auch Hindemith. Mit Hanns Eisler hat er sich intensiv auseinandergesetzt. Je länger, desto mehr fand er jedoch seine unverwechselbar eigene Note, gekennzeichnet durch Knappheit und Prägnanz der Form, Originalität des Einfalls und sensible Empfindungskraft. Sein Persönlichstes hat er in seinen fast hundert Klavierkompositionen ausgesprochen. Doch auch sein vielgestaltiges Vokalschaffen gewann an eigener Prägung, Kraft und Tiefe des Empfindens. Breiten Raum nimmt in Schwaens Gesamtwerk die Kammermusik ein. Sie ist in unterschiedlichsten Besetzungen präsent. Die lebenslang intensive Beschäftigung mit ihr hat sich auch in den Orchesterwerken und dem Bühnenschaffen niedergeschlagen.

Wolfgang Hanke

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